Hintergrundinformationen - "Die Räuberbraut"


Die Quellenlage

files/AstridFritz/Bilder ab Henkersmarie und Sera3/a Karl Matthias Ernst beide Kupferstich 1803.jpgWährend des legendären Schauprozesses gegen die Schinderhannesbande in den Jahren 1802 und 1803 entstand ein Aktenberg von 3.461 Dokumenten mit über dreitausend Seiten, zudem erschienen in der Presse zahlreiche Gerichtsreportagen und nach dem Prozess einige ausführliche Publikationen von Prozessbeteiligten. Im Mittelpunkt stand natürlich stets der Hauptangeklagte Johannes Bückler, aber auch über seine Lebensgefährtin (oder Beischläferin, wie man damals sagte) Juliana Blasius erfuhr man das eine oder andere. So wird sie als durchaus sympathisch beschrieben, als ansprechende junge Frau mit „einer feinen und interessanten Gesichtsbildung“, und der Mannheimer Künstler Karl Mathias Ernst, der sie während des Prozesses mehrfach porträtierte, stellte sie ordentlich herausgeputzt, mit schmalem Gesicht und ernster Miene dar.
Eine unmittelbare Mitwirkung an Bücklers Verbrechen konnte Juliana nicht bewiesen werden – zu zwei Jahren Zuchthaus wurde sie wegen Hehlerei (von der Beute hatte sie als Juliana Ofenloch einen Kramhandel betrieben), wegen Landstreicherei und Mitwisserschaft bei zumindest zwei Diebstählen verurteilt. Zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung war sie übrigens 22 Jahre alt, zwei Jahre jünger als ihre große Liebe Johannes Bückler.


Das historische Julchen

files/AstridFritz/Bilder ab Henkersmarie und Sera3/b Karl_Matthias_Ernst,_Julchen 1803.jpgAus objektiver Sicht war Juliana Blasius (geb. am 22.08.1781, gest. am 03.07.1851) gewiss kein unbeschriebenes Blatt, entstammte sie doch als Musikantentochter jenem bunten Völkchen, das schnell als Landstreicher- und Lumpengesindel beschimpft wurde. Oder, um es mit einem modernen soziologischen Begriff auszudrücken, dem ländlichen Prekariat. Aber allen Zeitzeugnissen nach deutet nichts darauf hin, dass sie, wie in Clara Viebigs (1860–1952) Roman „Unter dem Freiheitsbaum“ dargestellt, eine wagemutige und skrupellose Räuberbraut war, die selbst die Pistole in die Hand nahm. Bestimmt aber genoss sie es, um einiges freier und materiell sorgloser zu leben als die allermeisten ihrer Geschlechtsgenossinnen auf dem Lande. Obendrein boten Schinderhannes und seine Bande Schutz und Sicherheit, ein gewisser Ehrenkodex verbot Gewalt gegen Frauen, bürgerlich-moralische Tugenden wie Treue, Fürsorge oder Großzügigkeit wurden hoch gehalten.
Obgleich Schinderhannes schon zu Lebzeiten als Frauenschwarm bekannt war (angeblich soll er vor Juliana bereits acht Liebschaften gehabt habe, de facto waren es aber nur vier, darunter Julianas Schwester Margarethe), hatte er sein Julchen wohl wirklich geliebt – mehrfach ist bezeugt, wie vehement er sich im Prozess für ihre Unschuld eingesetzt hat.
Über ihre zwei Jahre im Genter Zuchthaus in Flandern, das damals wie die linksrheinischen Gebiete Deutschlands unter französischer Regierung stand, gibt es meines Wissens keine Aufzeichnungen. Es ist aber bekannt, dass diese Anstalt seinerzeit als höchst „fortschrittlich“ galt – insofern also eine recht milde Strafe des ansonsten eher gnadenlosen französischen Gerichtstribunals zu Mainz. Nach Verbüßen der Haftstrafe hatte Juliana tatsächlich versucht, ihren kleinen Sohn Franz Wilhelm (geboren am 1.10.1802 im Mainzer Zuchthaus, siehe auch Bild oben) zurückzugewinnen, hatte dann aber, nachdem sie von dessen Adoptivvater, dem Zoll- und Steuereintreiber Johannes Weiß, mehrfach sexuell belästigt wurde, resigniert. Auch die Rückkehr nach Weierbach ist belegt, ebenso ihre zwei Ehen dort, zunächst mit dem Dorfgendarmen Uebel, dann mit ihrem Vetter Peter Blasius. Sieben weitere Kinder hatte sie wohl zur Welt gebracht, von denen nur zwei überlebten. Von ihnen soll es heute noch Nachfahren geben, wie auch von Franz Wilhelm, dem gemeinsamen Sohn von Julchen und Schinderhannes. Und nicht zuletzt hatte der Schinderhannes bereits vor seiner Zeit mit Juliana zwei Kinder gezeugt, und zwar, wie im Roman beschrieben, mit der Räuberbraut Catharine Pfeiffer sowie in einer kurzen Liaison mit einem jüdischen Dienstmädchen – möglicherweise gibt es auch hier Nachfahren.


Der Schinderhannes-Mythos

files/AstridFritz/Bilder ab Henkersmarie und Sera3/Abdecker Zeichnung Th-Rawlandson um 1800.jpgDer Mythos um den Räuberhauptmann Schinderhannes, wie im Nachwort meines Romans beschrieben, lebt bis heut fort. Aus moderner Sicht würde man sagen, dass Johannes Bückler sich trefflich zu vermarkten wusste. Schon in jungen Jahren hatte der Sohn eines Abdeckers und Söldners (und Enkel eines Scharfrichters) sich mit der Aura des Geheimnisvollen umgeben, ja, um seine Person einen regelrechten Kult gemacht. Je weiter sein Tod zurücklag, desto üppiger schoss dieser Mythos ins Kraut. In der (Volks-)Literatur und auf den Jahrmärkten wurde das Hohelied auf den edlen Räuber gesungen, der das Geraubte verschenkt und mutig gegen die französische Besatzungsmacht gekämpft, der frei und ohne Abgaben in Wäldern und auf alten Burgen gehaust habe.
Ein Robin Hood des Hunsrücks also, der Reichen nahm und Armen gab? Die Reichen waren größtenteils jüdische Kaufleute und Kleinhändler, weshalb er angesichts des herrschenden Antisemitismus bei der Landbevölkerung wenn nicht auf offenen Beifall, so doch auf Schulterzucken hoffen durfte. Den Armen spendierte er mitunter in den Hinterzimmern der Wirtshäuser eine Runde, einem Bauern verschaffte er einmal ein gestohlenes Pferd wieder, wobei ihm der Dank dieser Menschen sichtlich Vergnügen bereitete. Und die von ihm bei Schloßböckelheim überfallenen Betteljuden erhielt ihre wenigen Habseligkeiten nur deshalb teilweise wieder, weil sie für ihn ohne Interesse waren.
Selbstverständlich war Bückler auch nicht der Widerstandskämpfer gegen die Franzosen, zu dem er schon vor seiner Hinrichtung stilisiert wurde. Keiner seiner Überfälle war politisch motiviert, und in seinem an Napoleon gerichteten Gnadengesuch hatte er dem Erbfeind Frankreich sogar seine Dienste im Kampf gegen das „perfide England“ angeboten.


Der Prozess

files/AstridFritz/Bilder ab Henkersmarie und Sera3/schinderhannes Verhaftung.jpgAllein die Fakten des Schauprozesses sprechen gegen den edlen Räuber: Während der 16 Monate dauernden Voruntersuchung (der Prozess selbst dauerte dann noch einmal vier Wochen) unterzog man Johannes Bückler mehreren Dutzend Einzelverhören, dazu erfolgten zahlreiche Gegenüberstellungen während der Hauptverhandlung. Das Gericht ließ ihn bis zum Schluss in der Hoffnung auf ein gnädiges Urteil und entlockte ihm damit umfangreiche Geständnisse – nur von Gewaltdelikten distanzierte er sich hartnäckig. Um die eigene Haut zu retten, denunzierte er weit über hundert Personen aus seinem Umfeld, die im Zusammenhang mit seinen Straftaten standen. Die Verdächtigen wurden bis Ende 1802 festgenommen und nach Mainz in Haft gebracht (bis zur Anklage im Prozess blieben davon noch 68). Nach und nach ergaben sich Hinweise auf zunächst 211 Delikte, denen nachgegangen werden musste: 96 Diebstähle, 71 teils äußerst brutale Raubüberfälle, 35 Erpressungen und neun Morde. Am Ende wurde er für 52 Verbrechen hingerichtet, darunter die Mittäterschaft bei vier Meuchelmorden.
files/AstridFritz/Bilder ab Henkersmarie und Sera3/schinderhannes_Hinrichtung.jpgDass Bückler nach seiner Festnahme zu allem bereit war, um den eigenen Kopf zu retten und hierfür Freunde, Hehler und Fluchthelfer verriet (was die hohe Anzahl der Angeklagten erklärt), wurde von seinen Bewunderern verdrängt, verschwiegen oder entschuldigt. In meinem Roman mache ich den Mainzer Prozess zum Scheitelpunkt im Leben der fiktiven Juliana: Spätestens jetzt bekommt sie ein andere Sichtweise auf Hannes‘ und ihr Tun, es beginnt ein innerer Kampf um Schuld und Sühne. Allerdings ist ihre Begegnung mit Rebecca, der Tochter eines der jüdischen Opfer, frei erfunden.
Historisch dagegen sind die Prozessbeteiligten und Strafverfolger, wie der der Gerichtspräsident Rebmann oder der Untersuchungsrichter Wernher. Ebenso der Mainzer Bürgermeister Franz Konrad Macké, der sich zum Paten von Julianas Sohn erklärte und ihn dann zur Adoption freigab.


Zeithintergrund

files/AstridFritz/Bilder ab Henkersmarie und Sera3/Heinrich_Buerkel_Raeuberanfall_c1853.jpgDie Kriege der europäischen Großmächte gegen das revolutionäre Frankreich seit 1792 hatten weite Landstriche verwüstet, die öffentliche Ordnung brach vielerorts zusammen. Es war eine große Zeit der Räuber, Gauner und Diebe, und besonders im Rheinland, der umkämpften Grenzregion, trieben Räuberbanden in den Wäldern ihr Unwesen. Erstaunlicherweise sah die verunsicherte Landbevölkerung, die wechselseitig von französischen und kaiserlichen Soldaten ausgeplündert wurde, die mal deutschen, mal französischen Gesetzen gehorchen musste, in Schinderhannes einen der Ihren, der es wagte, jegliche Obrigkeit, ob französisch oder deutsch, zum Narren zu halten. Nur so erklärt sich der Rückhalt, den Johannes Bückler in seiner Hoch-Zeit auf den Dörfern im Hunsrück und an der Nahe genoss. Die anfänglichen Sympathien der Kleinbürger und Bauern mit den Revolutionstruppen, die ja Adel und Klerus bekämpften, waren nämlich rasch in Feinseligkeit umgeschlagen, da sich die Besatzer gerade bei der Landbevölkerung schadlos hielt und den Menschen ihre Sprache, ihre Gesetze aufdrückte. Wie hohl klangen die schönen Worte „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, wenn einem die Vorräte gestohlen, die Ochsen und Pferde requiriert wurden! Zudem irritierte, dass den Juden die vollen Bürgerechte zugesprochen wurden. Frankreich wurde wieder zum Erbfeind, die Besatzer als Verursacher der neuerlichen Armut gesehen. Daran änderte auch der Friedensschluss mit dem Aufbau einer zivilen Verwaltung nichts, der das linksrheinische Deutschland in vier Departments auftrennte und aus Mainz die Stadt Mayence machte. Im Gegenteil.
Da Bückler vorrangig mit der französischen Obrigkeit in Konflikt geriet, sah man es wohl als einen Akt des zivilen Ungehorsams, den Räuber zu unterstützen, zu decken, ihm Unterschlupf zu gewähren.


Die Landjuden

files/AstridFritz/Bilder ab Henkersmarie und Sera3/friedhof weierbach.JPGNoch etwas anderes kam hinzu, was ihm Sympathien verschaffte: Nachdem der junge Bückler vom (Pferde-)Diebstahl auf Straßenraub und Einbruch übergegangen war, richtete er sein Augenmerk vor allem auf jüdische Händler. Er selbst hatte wohl keine Vorurteile gegen Juden, hatte in der Niederländischen Bande auch zeitweilig mit ihnen zusammengearbeitet. Aber er wusste, dass bei jüdischen Kaufleuten viel zu holen war und dass solche Überfälle von den judenfeindlich gesinnten Teilen der Landbevölkerung insgeheim gebilligt wurden.
Gerade im Hunsrück und Naheland hatten Dorf- und Landjuden einen relativ hohen Anteil an der Bevölkerung – bereits im 14. Jahrhundert wurden hier sogenannte Schutzjuden angesiedelt, im 18.Jahrhundert dann kamen Vertriebene aus Osteuropa hinzu. Wie anderswo auch, waren ihnen Bürgerrechte und Landerwerb verwehrt, suchten sie ihre Nischen im Vieh- und Kleinhandel oder im Kreditgeschäft. Und hier wie anderswo wurden ihnen wucherische Geldgier und heimliche Reichtümer zugesprochen - dabei lebten zehn bis 25 Prozent als Hausierer ohne festen Wohnsitz, als Betteljuden geschmäht.
Für Bückler wendete sich das Blatt, als er dazu überging, auch wohlhabende Müller und Bauern, also „Christenmenschen“, zu überfallen. Er verlor zusehends an Rückhalt bei der Landbevölkerung, wo er sich bis dato hatte sicher fühlen können  – der große Räuberhauptmann hatte sich verkalkuliert.


Die Schauplätze

files/AstridFritz/Bilder ab Henkersmarie und Sera3/Akademiesaal.jpgDie Hinrichtung des Schinderhannes und neunzehn seiner Komplizen am 20. November 1803 (angeblich vor 40.000 Zuschauern!) fand vor den Mainzer Festungsmauern auf erhöhtem Ort statt, dort, wo die Franzosen Jahre zuvor das kurfürstliche Lustschloss Favorite geschleift hatten. Heute befindet sich hier der Mainzer Stadtpark, die Richtstätte lässt sich auf die Kreuzung der Straßen An der Favorite, Göttelmannstraße und Am Rosengarten lokalisieren.
Der Mainzer Holzturm, ein mittelalterlicher Stadtturm, in dem Schinderhannes ein Jahr und fünf Monate lang eingekerkert war, ist noch erhalten. Auch Juliana war anfangs hier inhaftiert, bevor sie zwei Monate später ins „Maison de Force“, dem Zuchthaus Hinter den Augustinern verlegt wurde. Erhalten ist hiervon noch, in der Weintorstraße 12, die im Roman beschriebene Toreinfahrt mit dem Relief. Heute befindet sich in dem Komplex das Altenheim „Haus Maria Frieden“.
Auch der Akademiesaal im einstigen kurfürstlichen Schloss, in dem die Hauptverhandlung stattfand, besteht noch (siehe Bild oben). Heute ist er – Ironie der Geschichte! – Festsaal für die traditionelle Karnevalssitzung „Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht“.
files/AstridFritz/Bilder ab Henkersmarie und Sera3/08 Weierbach.JPGJulianas Geburtshaus in Weierbach gibt es nicht mehr. Die Straße im alten Ortskern hieß wohl damals schlichtweg „In der Gass“ und war mit einfachen, niedrigen Häusern besetzt. Wohl aber besteht noch das Geburtshaus des Schinderhannes in Miehlen/Hintertaunus wie auch die sogenannten Schinderhannes-Türme (Gefängnistürme) in Simmern und Herrstein im Hunsrück. Beide sind, mit Originalinventar, zu besichtigen.


Was sonst noch interessieren könnte

Das Rotwelsch, dieser Geheimjargon der Bettler, Gauner und des Fahrenden Volks, habe ich im Roman recht sparsam benutzt, um den Text nicht zu überfrachten. Es entstand bereits im Mittelalter und speist sich aus dem Jiddischen, aus der Sprache der Sinti und Roma sowie aus Nachbarsprachen wie dem Niederländischen oder dem Französischen. Wenn den Lesern Begriffe wie Kittchen oder Knast, pennen oder malochen bekannt vorkommen, liegt das daran, dass einiges davon über die Studentensprache in unsere heutige Umgangssprache gelangt ist.

Der im Roman erwähnte Erzräuber Peter Petri der Ältere, genannt Alt-Schwarzpeter, soll übrigens während seiner lebenslangen Zuchthausstrafe in Paris das Kartenspiel „Schwarzer Peter“ erfunden haben.

Die im Zusammenhang mit der Enthauptung beschriebenen makabren Versuche an den Leichen der Hingerichteten haben tatsächlich stattgefunden. Und zwar gleich an Ort und Stelle, in einem verdeckten Unterbau des Schafotts bzw. anschließend in einer eigens errichteten nahen Baracke. Solcherlei groteske Experimente mit Stromstößen und galvanischer Elektrizität sind als ein naturwissenschaftliches Kind jener Zeit zu sehen – in diesem Fall wollte man herausfinden, ob die Geköpften noch zu Empfindungen und Reaktionen fähig waren. Da die Hingerichteten als rechtlos galten, stieß sich niemand an dieser Art Leichenfledderei.
files/AstridFritz/Bilder ab Henkersmarie und Sera3/Karl_Matthias_Ernst,_Schinderhanes_Bande,_Christian_Reinhard_1a.jpgZusammen mit dem Anatom Jacob Fidelis Ackermann (1765-1815) wechselten die Gebeine des Schinderhannes und des Schwarzen Jonas (siehe Bild) schließlich nach Heidelberg, wo sie in der anatomischen Sammlung der Universität ausgestellt sind. Zumindest glaubte man das bis zum Ende des letzten Jahrhunderts - mittlerweile ist die Originalität höchst umstritten: Weder sind an Bücklers Skelett Spuren seines Arm- und Beinbruchs erkennbar noch von der schweren Lungentuberkulose, die bereits auf die Rippenknochen übergegangen war, wie damals bei den Untersuchungen festgehalten worden war (man nahm an, dass Bückler aufgrund dieser Krankheit ohnehin nur noch zwei Jahre gelebt hätte). Vor allem aber sitzt auf dem Rumpf ein falscher Schädel – der echte Schinderhannes-Schädel wird wohl auf immer verschollen bleiben…

Frauen im Fahrenden Volk (PDF-Datei)

Frauenleben im Räubermilieu zwischen Angst und Emanzipation (PDF-Datei)

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