Hintergrundinformationen - "Die Tochter der Hexe"


Die “Unehrlichen” – Außenseiter in der frühneuzeitlichen Gesellschaft

files/AstridFritz/Bilder Hexe bis Kondor/TH-Gaukler-Bosch.jpgAuch in unserer “modernen” Gesellschaft stoßen Minderheiten oder Menschen mit nicht alltäglicher Lebensform auf Vorurteile oder werden in eine Sündenbockrolle gedrängt. Fremd erscheint uns allerdings, dass im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ganze gesellschaftliche Gruppen und Berufsfelder ins Abseits gedrängt sind. Vor allem in der städtischen Kultur hatten diese Menschen kaum eine Chance, ihre Herkunft zu überwinden, waren dauerhaft am unteren Ende der Gesellschaftspyramide angesiedelt und von zahllosen Rechten wie kirchliche Heirat oder Bürgerrecht ausgeschlossen.


Der diebische Müller

Die Einteilung der Berufsgruppen ist für uns heute kaum noch nachvollziehbar: So galten Wollenweber als ehrbar, die Leinenweber als unehrlich. Mancherorts waren Müller, Gerber, Bader, Zöllner oder Türmer unehrlich, andernorts nicht. Durchgängig zu den unehrlichen Berufen gehörten die Kesselflicker und Scherenschleifer, die Schäfer und Feldhüter, die Totengräber und Nachtwächter, die Gassenkehrer, Kloakenreiniger und Abdecker. Und natürlich die Dirnen. Darüber hinaus wurden ganze gesellschaftliche Gruppen ausgegrenzt, wie unehelich Geborene, “Zigeuner” (auch Heiden oder Ägypter genannt), Juden, Bettler, Gebrandmarkte und zunehmend auch sogenannte “weise Frauen”. Sie alle galten als verachtenswert, ehrlos und latent kriminell. Ganz besonders traf dieses Stigma die große Gruppe der Fahrenden Leute, der Gaukler, Spielleute und Artisten, die im Roman “Die Tochter der Hexe” im Mittelpunkt stehen.

Das Phänomen der sozialen Randgruppen und deren Ausgrenzung hat damals wie heute ähnliche Ursachen. Deshalb seien an dieser Stelle nur einige historisch bedingte Aspekte erwähnt: Handwerkszweige wie Weber, Schneider oder Müller galten oft deshalb als unehrlich, weil sie mit großen Mengen Rohstoffen arbeiteten und man ihnen unterstellte, sie würden Material unterschlagen. Dann galt als ehrlose Tätigkeit alles, was mit Gestank (Gerber!), Unrat, Krankheit oder Tod zu tun hatte. Und nicht zuletzt steckte hinter der Ausgrenzung bestimmter Berufe schlichtweg das Konkurrenzgebaren einzelner Zünfte.


Die Künstler der Landstraße

files/AstridFritz/Bilder Hexe bis Kondor/TH-Comedians.jpgDie Fahrenden, auch Spielleute und Gaukler genannt, waren ein schrilles, buntes und lautes Volk. Allein durch ihre Nichtsesshaftigkeit galten sie als unehrlich und rechtlos, hinzu kam, dass sie sich für “Geld zu eigen” gaben, “nicht besser als die unfreien Knechte”. Selbst ihre Nachkommen waren von Handwerk und Bürgerrecht ausgeschlossen. Durch diesen Status jedoch, der nahezu als vogelfrei zu bezeichnen ist, entwickelte sich ein starkes Solidaritätsgefühl und ein eigener Ehrbegriff.

An der Spitze der Hierarchie standen die Musikanten. Ihnen bot sich die Chance der Sesshaftigkeit an Höfen oder in städtischen Diensten als Herolde, Trompeter, Posaunisten oder Stadtpfeifer. Damit befreiten sie sich vom Makel der Unehrlichkeit und wurden zu geachteten Leuten mit festem Einkommen. Den Possenreißern und Komödianten, Sängern und Tänzern, Tierbändigern und Akrobaten, Messerwerfern und Feuerschluckern, Wahrsagern und Taschenspielern, Zwergen und Krüppeln blieb dieser Aufstieg verwehrt. Und wer sich ihrem Tross anschloss, wie all die Krämer und Hausierer, Kesselflicker und Scherenschleifer, Quacksalber und Wundärzte, machte sich gleichermaßen rechtlos.

Seit dem 16. Jahrhundert zogen immer mehr Komödianten- und Schauspielertruppen durch Deutschland und zeigten ihre schreiend-bluttriefenden, pathetischen wie zotigen Stücke mit Titeln wie “Der reisende Schneider mit dem bösen Pferd” oder “Die Bataille und der Tod Malbroughs”. Um 1600 kamen Scharen von englischen, italienischen, französischen und holländischen Wandertruppen hinzu. Sie alle wurden einerseits begeistert beklatscht bei den Aufführungen, andererseits mit Misstrauen und Verachtung beobachtet. Die Konzession, die für jede Aufführung eingeholt werden musste, war von strengen Ermahnungen begleitet, keine ärgerlichen Sachen zu treiben oder Unzüchtiges und Unehrbares zu zeigen, und wurde schließlich zu Beginn des 17. Jahrhunderts immer häufiger verweigert.


Der Henker und die Heilkunde

files/AstridFritz/Bilder Hexe bis Kondor/Henker 1562.jpgDer Henker, auch Scharfrichter oder Nachrichter genannt, war der Vollstrecker der Todes- und Leibesstrafen und damit der Unehrliche par excellence. Sein Gewerbe machte ihn zum Paria der damaligen Gesellschaft, und er vererbte es in der Regel auf seine Söhne. So entstanden ganze Henkerdynastien, wie die berühmt-berüchtigten Biberacher Scharfrichter. Neben seiner blutigen Hauptaufgabe unterstanden ihm alle schmutzigen Ämter, vor denen andere zurückschreckten, wie die Verwaltung des Hurenhauses, die Abdeckerei, die Kloakenreinigung oder der Austrieb von Aussätzigen vor die Tore der Stadt.

Im Wirtshaus musste er allein speisen und trinken, in einer besonderen Ecke auf einem dreibeinigen Stuhl, dem Symbol des Galgens, sein Krug durfte keinen Deckel haben, seine Kleidung musste ihn als Henker kenntlich machen. Wie den Dirnen waren ihm Abendmahl, kirchliche Trauung und Bestattung verwehrt. Bald galten alle, die mit ihm in Berührung kam, als unehrlich: So die städtischen Häscher und Büttel, Gefängniswärter, Stadtknechte und Gerichtsdiener.

Dabei waren seine Fähigkeiten durchaus anerkannt (diese Zwiespältigkeit gegenüber Unehrlichen zeigte sich häufig): Wenn er mit einem einzigen glatten Hieb enthauptete, konnte er sich des Beifalls der Zuschauer sicher sein. Vor allem aber war sein Wissen in der Heilkunde geschätzt, denn durch seine anatomischen Kenntnisse, nicht zuletzt durch die ausgeklügelten Foltermethoden erworben, war er oft sachkundiger und geschätzter als die studierten Medici oder erfahrensten Wundärzte. So renkte er Glieder ein und heilte Wunden nach Verstümmelungen, damit der Tod nicht etwa vor der Exekution eintrat. Es heißt, der große Paracelsus persönlich habe einen Teil seines Wissens bei Henkern erworben!

Oft ging es dem Henker wirtschaftlich erstaunlich gut, denn er profitierte vom Aberglauben jener Zeit. Als Hüter der Richtstätte machte er gute Geschäfte mit Glücksbringern und zauberkräftiger Medizin, die den Körpern seiner Delinquenten entstammten: Fingerglieder oder Knöchelchen im Geldbeutel ließen das Geld nie ausgehen und schützten vor Ungeziefer, unter der Hausschwelle vergraben verhießen sie beständigen Haussegen. Hirn half gegen Tollwut, Hautfetzen gegen Gicht, Schamhaare, in einem Tuch um den Unterleib getragen, verhalfen zu Schwangerschaft. Frisch aufgefangenes Blut wurde gegen die Fallsucht und andere gefährliche Krankheiten verabreicht, da dem Körper eines Hingerichteten enorme Kräfte zugesprochen wurden.


Bettelstab und falsche Wunden

files/AstridFritz/Bilder Hexe bis Kondor/VB-Bettler.JPGAnfang des 17. Jahrhunderts nahm die Zahl der Bettler in den Städten trotz Bettelverbots rapide zu, entwurzelte Kinder bildeten straff organisierte Banden. Die städtischen Aufseher oder Bettelvögte gingen mit Stadtverweis oder Gefängnisstrafe gegen fremde Bettler vor, ausgenommen waren hiervon allerdings Pilger, unterwegs zu heiligen Stätten, und Bettelmönche. Nur den sogenannten Hausarmen mit städtischem Bettelprivileg war erlaubt zu betteln, sofern sie arbeitsunfähig waren und – wie vielerorts üblich - Vaterunser, Ave Maria, Glaubensbekenntnis und die Zehn Gebote aufsagen konnten. Sie trugen besondere Zeichen an der Kleidung oder Bettelstab und Bettelschelle und durften keine schwärenden Wunden zeigen.
Dennoch gab es zuhauf falsche Bettler, die ihr Handwerk von der Pike auf gelernt hatten und virtuos ihre schrecklichen Gebrechen vortäuschten.


Schlupfhuren und Winkelbordelle

Das städtisch kontrollierte Dirnenwesen mit Frauenhäusern unter der Ägide des Henkers ging in den meisten Städten schon im 16. Jahrhundert unter. In diese Lücke traten “freie” Kupplerinnen mit ihren Dirnen, die oft an Geistliche vermittelt wurden. Als sogenannte Winkelbordelle dienten ihnen neben Privatwohnungen oft Spinnhäuser oder die Häuser der Müller. Ganz auf sich gestellt und dementsprechend gefährdet arbeiteten Straßendirnen und heimliche Dirnen (Schlupfhuren, Winkeldirnen). Daneben existierte eine rege Gasthaus- und Badstubenprostitution mit Wirten und Badern als Kuppler.

Als Huren bekannte Frauen wurden nicht zum heiligen Sakrament und zur kirchlichen Trauung zugelassen und auf dem Schindanger begraben. Wurden sie mit ehrbaren Bürgern erwischt, drohte ihnen (und nicht etwa den Freiern) der Pranger und das Ausstreichen mit der Rute. Bekehrten Dirnen blieb, um ihre Ehre wieder herzustellen, nur der Eintritt in Frauenorden.

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